Sprachbar
Wie blauäugig!
Blaue Augen: Für viele sind sie ein Sinnbild für Naivität und Unwissenheit. Handelt es sich dabei nur um ein deutsches Selbstbild? Folgen Sie uns auf eine kleine sprachliche Reise durch die Kulturgeschichte.
“O Hermann! Hermann! / So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, / Und doch so falsch sein?” – das lässt Heinrich von Kleist den römischen Feldherrn Varus ausrufen, als dieser erkennt, dass der Cheruskerfürst Hermann ihn betrogen hat. Blondes Haar und blaue Augen gelten hier offenbar als Zeichen von Treue und Ehrlichkeit, wobei der Römer wohl gehofft hatte, dass Hermann damit auch leichtgläubig sei – blauäugig eben. So wie wir heute diese Augenfarbe als Metapher für ein naives Gemüt und unüberlegte Handlungen verwenden. Warum kommen wir dabei aber gerade auf die blauen Augen, und nicht etwa auf braune oder grüne?
Blaue Augen = naiver Charakter?
Seit der Antike gelten Augen als Spiegelbild der Seele. Sie wurden darum als ein ganz besonders edles Körperteil angesehen. Nun könnte man meinen, dass blaue Augen durchsichtig sind und einen in das Innere eines Menschen blicken lassen, der nichts zu verbergen hat. Manch einer wird vielleicht auch daran denken, dass die meisten Babys im ersten Lebensjahr blaue Augen haben, weil ihr Körper das Pigment Melanin noch nicht ausgebildet hat. Sind Babys denn nicht in der Tat leichtgläubig und naiv?
Irgendetwas scheint hier aber nicht zu stimmen, denn nur im Deutschen wird blauäugig mit naiv, unwissend, dumm, blöd gleichgesetzt. Das englische blue-eyed bezeichnet nur die Augenfarbe, ebenso das französische des yeux bleus oder das spanische ojos azules. Im östlichen Mittelmeerraum gibt es sogar die Vorstellung, dass blauäugige Menschen einen mit dem bösen Blick schaden können. Sollte dies bedeuten, dass “treue blaue Augen” und “naive Blauäugigkeit” eine typisch deutsche Vorstellung sind?
Blaue Augen = feige?
Werfen wir dazu einen Blick auf die Geschichte der Körperdeutungen. In der Antike gab es mit der Physiognomik eine Wissenschaft, die vom Körper auf den Charakter zu schließen versuchte. Wenn man hier nach der Bedeutung von blauen Augen sucht, ist man überrascht, dass sie kaum eine Rolle spielen.
Die älteste Abhandlung dazu, die Aristoteles zugeschriebene Physiognomica, die um 300 vor Christus entstand, handelt sie mit einem Satz ab: Blaue Augen verweisen auf einen feigen Charakter – eine Vorstellung, die uns heute völlig fremd erscheint.
Blaue Augen = phlegmatisch?
Aber es gibt noch eine weitere historisch wichtige Tradition, Körper und Charakter miteinander in Beziehung zu setzen: die Temperamentenlehre. Sie stammt aus der antiken Medizin und ging davon aus, dass körperliche Säfte den menschlichen Charakter bestimmen und seine äußerlichen Merkmale beeinflussen.
Blaue Augen galten als Zeichen dafür, dass der Körper besonders wasserreich war. Wasserreichtum wiederum machte einen Menschen zum Phlegmatiker, zu einer trägen Person, die zwar ein gutes Gedächtnis hatte, aber nur wenig Verstand besaß.
Ein deutsches Selbstbild?
Von blauen Augen als Zeichen von Treue oder Naivität ist somit weder in der Physiognomik noch in der Temperamentenlehre die Rede, obwohl beide in Europa bis tief ins 19. Jahrhundert hinein überliefert und wissenschaftlich ernst genommen wurden. Diese Vorstellung muss also jüngeren Datums sein. Tatsächlich finden sich in der deutschen Literatur vor dem 19. Jahrhundert keine Belege für naive Blauäugigkeit.
Wenn man jetzt noch bedenkt, dass diese Metapher nur im deutschen Sprachraum zu finden ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie im Zusammenhang mit der deutschen Nationalbewegung entstanden ist. Es würde sich dabei also um ein sogenanntes deutsches Autostereotyp handeln, um ein Selbstbild.
Blauäugige Deutsche
Der Deutsche an sich wurde äußerlich mit blond und blauäugig in Verbindung gebracht, eine Kombination, die dann vermutlich auf alle Deutschen übertragen wurde. Als eine Eigenschaft des blonden und blauäugigen Deutschen sah man vor allem die Treue an, die 1841 in der zweiten Strophe des “Lieds der Deutschen” von Hoffmann von Fallersleben besungen wurde: Deutsche Frauen, deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang!
Als eine weitere Eigenschaft neben der Treue galt auch der Idealismus. Von Treue und Idealismus ist es nur noch ein Schritt zu Gutgläubigkeit und Naivität. So lässt der österreichische Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch in seiner Novelle “Venus im Pelz” einen deutschen Maler auftreten, dessen “schöne, schwärmerische, blaue Augen” sich so in die Femme fatale Wanda vergucken, dass er darüber verrückt wird.
Deutsche = blauäugig
Also: Was lernen wir daraus? Dass blaue Augen in Deutschland sehr verbreitet sind und dass die vermeintlich naiven und leichtgläubigen Kinder dementsprechend oft blaue Augen haben, war eine wissenschaftliche Erkenntnis, mit der man die nationale Ausdeutung der Farbe belegen wollte. In den blauen Augen als Metapher für Naivität klingt somit ein nationales Selbstbild nach – blauäugig sind daher im doppelten Sinne nur die Deutschen.